3. Zugfahrten

Von Magdeburg fährt der Künstler mit dem Zug zurück durch seine Thüringer Heimat, dabei reflektiert er über die Geschichte des Antisemitismus und (rechter) Gewalt. Wir beobachten seine Blicke aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Die mit dem Smartphone aufgenommenen Fotos werden überlagert von Drachen. Die für andere unsichtbaren Fabelwesen, die ihn auf seiner Reise begleiten, visualisiert er so mit wenigen Strichen auf dem Display.

Jung erweitert seine bildnerischen Verfahren um einen in lyrischen Texten gebündelten Gedankenstrom, der persönliche Erfahrungen während der Zugfahrt mit Erinnerung an und Berichten über Antisemitismus in der Region verwebt. Die einzelnen Tatvorgänge werden nicht historisch rekonstruiert, sondern assoziativ umrissen. Vermeintliche Bagatelldelikte und ungleich schwerwiegendere Straftaten fügen sich zu einer Collage zusammen, die es erlaubt, sich dem Antisemitismus in Thüringen emotional anzunähern.

Kühe Schweine Ostdeutschland

Prozess.
Wegen Halle.

Ein ehemaliger Stubenkamerad sagt aus:
Der hat da immer an Schimpfworte
hinten Jude drangehängt.
Aber sie selbst haben
das eigentlich auch gemacht.
Und so Schwuchtel und so gesagt.
Das war auch irgendwie normal.
Sie waren ja jung.

Die Kripo-Live-Reporterin
vermöbelt neben mir ihren Laptop,
als wäre sie einer heißen Story
auf der Spur,
während deutsche Alltäglichkeiten zutage treten
und der Prozess wegen Halle
in Magdeburg an Fahrt aufnimmt.

Ich steige in den Zug.

Deutsche Bäume.
Deutsche Wiesen.
Deutscher Alltag.
Ziehen an mir vorbei.

Vor zehn Jahren sind wir
mit einem Reisebus
in thüringische Kleinstädte gefahren
und haben
„Kühe Schweine Ostdeutschland“ geschrien.
An den Zuständen hat das
nichts geändert,
auch wenn wir recht hatten.

Deutsche Kultur:
immer auch eine Wurstkultur.
Und wer kein Schwein isst?
Hat es an einer Landstraße schwer,
was zu beißen zu finden.

Mein Opa hat Bratwurst geliebt.
Und wenn er von der Arbeit kam
und am Mittagstisch nicht genug aß,
sagte meine Oma immer:
Du hast doch am Straßenrand
Bratwurst gegessen.

Mein Opa wurde zwei Tage
nach der Machtübernahme geboren,
und starb an einem Tag,
an dem ich in Buchenwald war.

Juden?
Kannte ich lange keine.
Juden kenne ich heute wenige.

Am Horizont
taucht ein Drache auf
und fliegt neben dem Zug her,
blinzelt mir zu.

Mit offenem Mund blicke ich
entgeistert meine Mitreisenden an.
Doch sie tun so, als wäre nichts.

Ich schaue wieder aus dem Fenster:
Ackerflächen,
Bäume und Windräder.

In der Stadt stehen
in Hinterhöfen Plastikstühle
und manchmal auch ein Pool.

Die Sonne drückt
durch die Zugfenster.

Knallbunte Plastikstühle
vor blätterndem Putz,
behangen mit klebriger,
schwitzender,
faltiger,
weißer Haut,
um einen brennenden
Rost versammelt:
Bald sind die Würstchen
braun genug.

Dazu steht Kartoffelsalat bereit.

Ein Bundeswehrhubschrauber in der Luft
kreuzt den Zugverlauf.

Klimagrenze Fensterscheibe

Wieder im Zug.
Wieder Felder.
Und Bäume.
Manch einer vertrocknet.

An den neben mir herfliegenden Drachen
habe ich mich gewöhnt,
auch daran,
dass außer mir im Zug
niemand Notiz von ihm nimmt.

Mein Opa ist einmal
in den Graben gefahren,
weil er am Himmel
eine Gabelweihe gesehen hat.

Die Sonne scheint
seit drei Wochen durch.
Im neuen Deutschland
haben die Züge Klimaanlage.
Draußen hinter
der Klimagrenze aus Glas:
immer noch eine Landschaft
ohne Eigenschaften:
Felder, Bäume, Felder.
Straßen und manchmal Häuser.
Strommasten und Windräder.
Aber auch Burgen.
Wunderschöne Burgen.
Wunderschönes Mittelalter
Wunderschöne Barbarei.
Und in den Mauerritzen steckend:
der Judenhass.

In der Kunsthalle Erfurt:
Fotos von der Befreiung Buchenwalds.

Ich komme
an der Neuen Synagoge vorbei,
auf die drei Nazis
im Jahr 2000 zu Hitlers Geburtstag
einen Brandanschlag verübten.

Auf dem Rückweg
fragt mich ein Soldat,
ob wir uns kennen.
Ich verneine.
Er entschuldigt sich.

Afghanistan

Eine Frau erklärt ihrem Gatten,
was sie gerade in der Bild-Zeitung
gelesen hat.
Sie liest es in dem Teil der Zeitung,
den er bereits durchgearbeitet hat:
„In Gera haben sie
ein Kühllager demoliert,
mit Absicht,
das mussten sie
alles wegschmeißen.“

Wir halten in Apolda.
Schweinekopf
vor Jüdischer Gedenkstätte abgelegt.
Stand damals in der Zeitung.
Damals, am 16.09.2010.

Die Züge sind wieder
durchsetzt mit Soldaten,
die von ihrem trockenen Krieg
nach Hause kommen,
oder von einem echten Krieg.

Einmal torkelte ein betrunkener
Bundespolizist in Uniform
durch den Zug;
betrank sich mit einer Mische
aus einer 1,5 Liter Colaflasche.

Er hämmerte an die Zugtür
und schrie:
„Ich muss hier raus“.
Gestand der Schaffnerin,
er sei Polizist.
Die Schaffnerin,
sich das Lachen
schwer verkneifen könnend:
„Das sehe ich“.
Seine Kollegen stiegen zu
durchsuchten seine Tasche,
merkten erst spät,
dass ihr Kamerad unentwegt
aus seiner Colaflasche trank.
Schließlich führten sie ihn ab.

Einer der Mitfahrer erzählte,
der Betrunkene habe
von seiner Zeit in Afghanistan
als Ausbilder für Polizisten erzählt,
dass er dies niemandem wünsche,
selbst seinen schlimmsten Feinden nicht.

Am Streckenrand
steht in einem Hinterhof
ein Imbisswagen
in Form einer Bratwurst,
scheinbar ausrangiert.

Am Hauptbahnhof in Erfurt
steigt mit uns
ein blinder Mann aus.
Der Zugbegleiter fragt,
ob er jemanden suche.
Der Blinde sagt:
„Ja,
eine Frau
mit kunterbuntem Kleid.“

Zahnarzt

Ich sitze beim Zahnarzt.

Gestern feierten wir
im Seniorenwohnzentrum
den Geburtstag meiner Oma.
Mein Opa starb letztes Jahr.

Mein Zahnarzt ist
der schönste Zahnarzt der Welt,
also vom Wartebereich her.

Und so fahre ich noch immer
von Leipzig extra nach Jena,
für meinen Zahnarzt
und um meine Familie
zu besuchen.

Der Zahnarzt ist vorbei
und weil er mich mag,
hat er nicht gebohrt.

Ich sitze am Bahnhof Jena West.
Gegenüber vom Gleis eine Gedenktafel:
„Zum Gedenken an unsere
Jenaer Mitbürger,
die rassisch verfolgten
Juden, Roma und Sinti,
die von hier aus
in die faschistischen Todeslager
deportiert wurden.“

Wie fühlt sich jemand,
der jeden Tag zu seiner Maloche
über diesen Bahnhof fahren muss,
dem die Nazis
die Familie zerstört haben.

Auf Facebook ploppt ein Foto
vom Hof einer Autoverwertung auf:
„Judensau“ steht auf der Heckscheibe
eines der Wracks.

Am Bahnhof in Jena-Göschwitz
hängt ein Plakat
für die Marc-Chagall-Ausstellung
in Apolda.

Ich steige in den Zug nach Gera
zur Otto-Dix-Ausstellung.

War Otto Dix eigentlich Antisemit?
Im Krieg war er.
Aber nur im Ersten.
Ich freue mich auf Otto Dix.
Die Sonne scheint.

Ein Typ in meiner Sitzgruppe fragt mich,
ob es hier gebrannt hat
und meint wohl einen
nicht weißen Menschen,
der zwei Reihen weiter sitzt.

Leicht geknickt, wird er still,
als ich nicht lache
und ihm meinen Laptop
quer durchs Gesicht ziehe.

Wir halten in Stadtroda,
er sammelt die Teile
seines Gesichtes zusammen
und steigt aus.

Ich bin in Gera angekommen.
Beim Bäcker bekomme ich
eine Schinken-Käse-Brezel für 1,50 €,
die gefühlt ein Kilo wiegt.
Vor mir wedelt ein gesund erscheinender
junger Mann mit einem Wisch herum,
der ihm attestiert,
keine Maske tragen zu müssen.
Die Otto-Dix-Ausstellung ist wundervoll.

Neben dem Zug fließt die Elster.
Der Drache lässt sich in ihr treiben.
Wozu fliegen,
wenn man sich
mit deutschem Wasser
treiben lassen kann.

Wir fahren an Zeitz vorbei:
im Ort haben 33 Prozent AfD gewählt
auf einem kleinen Hügel auf Kloster Posa
halten ein paar Leute die Fahne hoch.
Für eine offene Gesellschaft.
Als ich da eine Intervention
in einer
leer stehenden Fleischerei machte,
stiegen ein paar junge,
dynamische Menschen aus,
die Macherinnen
eines feministischen Erotikmagazins,
und schrien die Leute an:
„Boar geil,
wie abgefuckt ist das denn?“

deutscher

Am Bahnhof in Mühlhausen
rosten die Dächer der Wartehäuschen.
Die Einheitsbahnhofsgestaltung
der Deutschen Bahn
hat bereits Einzug gehalten.

Am alten Bahnhofsgebäude
pisst eine Comicfigur
auf eine Israel-Flagge.
Links daneben
weht eine gesprühte Hakenkreuzfahne.
Auch hier scheinen
sie sich herumzutreiben,
die Einzeltäter,
angetrieben vom nicht aufgearbeiteten
braunen Rost der Geschichte,
mit Schulterschlag aus der Verwandtschaft.
„Wir waren ja auch mal jung.“
Und überhaupt,
nur weil da mal jemand
was gesprüht hat,
heißt das noch lange nicht,
dass die ganze Stadt …
„Rechtsextrem?
Also hören Sie mal,
das sind unsere Kinder.“

Im Viererplatz neben mir
nimmt eine ältere Dame Platz,
sie zeigt auf meinen ganzen Kram,
FAZ,
Süddeutsche,
Laptop
und Rucksack
und Tasche,
und fragt:
„Sind das alles Ihre Sachen?“
„Ja“, sage ich.
„Wollen sie darüber reden?“, frage ich.
„Nein“, sagt sie
und zerrt vorwurfsvoll ihrerseits
ihren Kram auseinander
und verteilt ihn
auf den drei um sie liegenden Plätzen,
nicht ohne einige genervte Schnalzer
von sich zu geben.

Aber sie hat recht,
ich sollte meinen Schreibtisch
mal wieder aufräumen.
Fast tut sie mir leid,
die in ihren
gerosteten Gedanken Gefangene.
Doch solange sich ihre Wut
nur gegen meine Sachen richtet,
soll es mir recht sein.
Auch wenn die Frage bleibt:
Wessen Geistes Kind ist die Ordnung?

Zum Ende hin
wird sie mir sympathisch.
Irgendwo sind alle Punkrock,
ob ich im Hemd,
mit vermülltem Platz
oder sie im Ordnungswahn,
mit Schuhen auf dem Sitz.

Entjudungsinstitut

Ich sitze im Martin Luther
auf dem Weg nach Eisenach.
So heißt der ICE.
Einen Zug in Deutschland
nach einem Antisemiten benennen:
classic.

„Come on, damals,
da waren doch alle Antisemiten,
selbst die Juden.“
Wer sagt das?
Der Drache,
der neben dem Zug her fliegt,
blinzelt mir schon wieder zu.
Da drüben der Glockenturm in Weimar;
Buchenwald.
Und hier im Zug
die Kindeskinder der Täter.

Und gleich gehts den Berg hinauf
zum ehemaligen Entjudungsinstitut.
Heißt aber eigentlich Wartburg.
Gegründet 1939
von der Evangelischen Kirche.
In der Zeitung lese ich einen Bericht
über die Waldkliniken in Eisenberg,
die jetzt koscheres Essen
anbieten wollen.

Ich freue mich auf die Wartburg.

Im Arbeitszimmer meines Opas
stand ein Modell der Wartburg.
Das hatte er selbst gebaut.
Das Arbeitszimmer
wurde dann zum Fernsehzimmer.

„So wie er gestorben ist,
will ich auch sterben.“
Wir standen um sein Sterbebett,
alle Verbliebenen aus der Familie.
Nicht allein sterben:
das letzte Privileg.

Am Horizont ist immer noch
der Glockenturm von Buchenwald
zu sehen.

Der Zug hält in Erfurt.
Passagiere steigen ein
und suchen ihre reservierten Plätze.

Martin Luther spuckt mich
in Eisenach aus.
Das Wartburg-Shuttle
fährt erst in 20 Minuten.

Im Zentrum Eisenachs irrt
eine blinde Frau auf der Straße
zwischen den hupenden Autos umher,
zu Füßen der Martin-Luther-Statue.

Hinter dessen Denkmal der Drache
am Himmel seine Kreise zieht.

Der blinden Frau helfe ich von der Straße,
sie furzt mich darauf hin an:
„Hier wollte ich gar nicht hin.“

Zurück an der Bushaltestelle
fährt das Shuttle vor,
mit einem freudestrahlenden Busfahrer
mit Deutschland-Basecap auf der Glatze.
Das Wetter ist angenehm mild
mit einer leichten Brise von rechts.

Drei Straßen weiter
kämpft ein Ritter
mit einem Drachen,
von Grünspan überzogen.
Für Sie.
Für Hier.
Wirbt die CDU Eisenach.

Ich sitze hoch oben
im ehemaligen Entjudungsinstitut
in einem Café
neben allerhand Touristen,
die einfach nur die Wartburg besuchen,
um sich ein wenig
in der guten alten Zeit
des Mittelalters zu sonnen.
Für den doppelten Espresso
und das Wasser bezahle ich
mit Trinkgeld zehn Euro.
Ich stelle mir vor,
während ich in meinen Laptop tippe,
wie Martin Luther hier
seine Hasstiraden gegen die Juden
mit ausgerissener Gänsefeder zu Papier brachte,
und wie dann später
ein Haufen Protestanten
hier am gleichen Tisch
das Institut zur Entjudung des Christentums gegründet hat.

Mein Laptop ist die neue Gänsefeder,
nicht mehr ausgerissen aus einem Tier,
nein, seine Produktionsbedingungen schlagen jetzt
eine Schneise der Verwüstung
über den ganzen Planeten.

Alles eine einzige Kulturgeschichte
der Barbarei,
auf die wir uns hier
so romantisch beziehen.

Es ist 12:46.
Mittagstisch ist offiziell zu Ende
und das Restaurant wie leer gefegt.
Auf die Deutschen ist
in jeder Hinsicht Verlass.
Auf dem Weg zum Bahnhof
komme ich
an der Wartburgsparkasse vorbei.
Die haben Uwe und Uwe
damals überfallen
und sich danach die Köpfe
mit einer Pumpgun weggeballert.

„Das alles ist Deutschland“,
höre ich die Prinzen
in meinem Kopf singen,
während sie im Kanzleramt stehen
und für Angela Merkel krakeelen.

Die Gesichter der Menschen
auf den Straßen
sind weder traurig noch glücklich,
sie zeichnen sich vielmehr
durch eine bestechende
Ausdruckslosigkeit aus.
Als würden sie alle
hier bloß ihre Pflicht tun.
Auf Arbeit gehen.
Einkaufen.
Essen.
Schlafen.

Friedhof

Ich sitze beim Bäcker im Schaufenster,
esse ein Sauerteigbrötchen mit Chiasamen
und trinke einen Espresso.
Die Bäckerin hat mir noch
ein Stück Butter aufs Haus gegeben,
„Sonst schmeckt das ja so trocken“,
meint sie.

Ich schaue aus dem Fenster.
Ein Mann mit einer gelben Armbinde läuft vorbei.
Einer der drei aufgenähten Punkte
droht abzufallen;
hängt nur noch an einem Faden.
Das Brötchen schmeckt gut.

Später fahre ich durch Gotha.
Auf dessen jüdischen Friedhof
kommt man nur nach Anmeldung
bei der Stadtverwaltung;
2008 hängten zwei Männer einen Schweinekopf ans Friedhofstor.

Am Nachbartisch diskutiert eine Mutter
mit ihren zwei
um die zehnjährigen Söhnen,
ob die Mandeln mit Salz,
für Mandeln mit Salz,
zu wenig salzig schmecken.

Draußen ein idyllisches Häuschen
mit Gärtchen.
Die Sonne kommt raus.
Der Himmel ist blau.

Coronaschleuder

In der Coronaschleuder
von Erfurt nach Jena.
Auf halber Strecke
taucht wieder
der Glockenturm auf.

Um mich herum
tropfen Schweißperlen
von den Stirnen,
verfangen sich in Masken
oder tropfen zu Boden,
die letzten Schweißtropfen,
die die Septembersonne
uns Reisenden dieses Jahr abringt.

Alle tragen Maske.
Und niemand brabbelt vor sich hin,
was er oder sie am Abend zuvor
in einer
Whatsapp- oder Telegram-Gruppe
von Hildmann und Co. gelesen hat.
Und niemand redet hinter
nicht vorgehaltener Hand
von denen,
die Corona angeblich
erfunden hätten.
Und niemand wünscht jemandem
die Pest an den Hals.
Wenn ich nicht Covid-19 bekomme,
war es beinah eine gute Zugfahrt
in Deutschland,
außer dass es heiß war,
abgesehen vom Glockenturm,
den ich doch all die Jahre
immer öfter übersah,
je öfter ich an ihm vorbeifuhr,
als ich noch zwischen
den Drachen und Burgen lebte.

Im Mühltal nach Jena verfängt sich der Drache immer wieder in den Bäumen und fällt zurück.

Juden-Jena

Ich sitze in der DB-Lounge
und probiere mich durch
das Kaffeesortiment.

Die Eiszeit ist vorbei.
Der Stecker der Kühltruhe liegt demonstrativ auf der Kühltruhe.

In 50 Minuten kommt
mein Zug nach Jena
und katapultiert mich zurück
in die Heimat.
Dorthin zurück,
wo eine Terrorgruppe
sich radikalisierte:
Uwe, Uwe, Beate und Co.
Dorthin zurück,
wo der Rechtsterrorismus des NSU,
sein Netzwerk über das ganze Land begann zu spinnen.

„Jena, hast du Juden?“,
möchte ich meinem Puppenstädtchen entgegenschreien,
noch während ich hier
bei kostenlosem Kaffee
mit Bahncomfort-Status
in der DB-Lounge sitze.

Eine dünne Frau, ungefähr meines Alters, zapft sich eine Coke light.
I HAVE NEVER SEEN
A THIN PERSON
DRINKING DIET COKE,
schreit Donald Trump in meinem Kopf.
Die Mitarbeiter der DB-Lounge beschäftigen sich mit einer Biene
und bitten sie, die Biege zu machen.

Von dem einen Uwe
fand der Staat einmal
einen Fingerabdruck
auf einer
an einer Autobahnbrücke
aufgeknüpften Puppe
mit Davidstern.
Dann verurteilte ihn der Staat,
weil sein Alibi nicht stichhaltig war.
Die hätten noch nicht einmal gewusst,
wer bei Playstation gewonnen habe.
In zweiter Instanz
wurde der Uwe freigesprochen.
Denn in der zweiten Instanz
wussten der Uwe,
der Uwe,
die Beate und der Ralf
dann plötzlich
doch alles ganz genau:
Der Ralf gewann bei Playstation,
weil der Uwe
das zum ersten Mal gespielt hatte.
Danach radikalisierten sie sich weiter.

Und wenn der Fußballverein Erfurt
in Jena gegen Jena spielte,
dröhnte es gerne mal
aus dem Erfurter Fanblock:
„Juden Jena.“
Natürlich alles Einzelschreier.
Einzeltäter.
Erfurt,
und wo hat Jena jetzt Juden?

Ich lasse die Mitarbeiter der Reichsbahn
mit der ungelösten Bienenfrage allein.
Der Zug fährt ein.
Auf in die Heimat.
Auf in die Stadt,
wo die optische Industrie
die Zielfernrohre entwirft,
damit man sich weltweit die Köpfe wegballern kann.
Ob in der Pumpgun, mit der sich Uwe und Uwe
die Köpfe wegballerten,
auch eine Jenaer Linse steckte?

Pumpguns haben keine Zielfernrohre, raunt der Drache, der wieder neben dem Zug herfliegt.

Braune Streifen

Draußen zieht die Landschaft
in braunen Streifen vorbei.
Im Winter sind die Felder schwarz;
selten weiß.
Im Frühjahr gelbe Rapsfelder.
Im Sommer rote brennende Bäume.
Im Herbst ist alles wieder braun.

Schwarz.
Gold.
Rot.
Braun.

Nächster Halt Magdeburg.
Wo nach wie vor
wegen Halle prozessiert wird,
und analoge Bürokratie-Tiere versuchen, das Internet zu verstehen.

Am Bahnhof von Halle
prangt ein riesiges Pin-up
auf der Brandmauer eines Bordells
über den Dächern.

Der Zug fährt an einem Nest vorbei,
in dem zwei ehemalige
Russen-Kasernen verrotten.
Die Russen sind abgezogen,
und Geflüchtete bringt der Staat auch immer seltener
in solchen Immobilien unter.

Die Plattenbauten sehen aus
wie die aus Freienbessingen,
einem Flüchtlingslager aus den 2000ern,
zu dem ich mit meinen Kühe-Schweine-Ostdeutschland-Freunden fuhr.
Zurück kam ich mit Fotos:
von zerbrochenen Waschbecken,
verschimmelten Tapeten
und nicht angeschlossenen Heizungen,
Fotos für eine Kampagne
zur Schließung des Lagers.

Zumindest da hat das Busfahren
sich gelohnt.
Irgendwann wurde das Lager
dann tatsächlich geschlossen.
Aber vielleicht auch nur,
weil irgendwo anders
die Pro-Kopf-Unterbringungspauschale
den Staat noch billiger kam.

Vor ein paar Wochen
brannte Moria
und alle sagten:
Wir haben es doch gesagt.
Niemand mag Klugscheißer.

Europa läuft rot an,
als hätte man es beim Scheißen erwischt.
Selbst Merkel soll gesagt haben:
Wir wussten es.

Wir alle sind schuld,
daran ändert sich auch nichts,
wenn wir nachmittags
auf eine Solidaritätsdemo gehen,
bevor wir abends wieder
den Planeten in die Knie streamen.
Whataboutism?
Welcome to hell.

Es ist kalt geworden.
Im Zug läuft die Klimaanlage,
obwohl es draußen nur 10 Grad sind.

Der Himmel ist trüb.
Die Bäume werden
vereinzelt schon gelb.

Auf den Strommasten
sammeln sich die Zugvögel
auf dem Sprung Richtung Mittelmeer und darüber hinaus,
während unter ihnen
ein paar braune Kühe
auf den Winter warten.
Welche Auswirkungen
der Klimawandel
wohl auf die Zugvögel hat?

Wann werden die ersten versuchen,
den Klimawandel nicht mehr zu leugnen,
sondern den Juden
in die Schuhe zu schieben?

Als die Coronapandemie
den weißen Mann erreichte,
dauerte es nur
einen Wimpernschlag.

Im Zugabteil stinkt es
nach Parfüm.
Draußen fahren
Matchboxautos
auf lang gezogenen
Landstraßen.

Ach,
wenn der Rest der Welt
doch bloß nicht
unsere Privilegien
haben wollen würde.

Wohnmobil: Peng

Auf einem Feldweg
steht ein einsames Wohnmobil,
davor ein Grill.

In Klappstühlen
hängen zwei Männer
und eine Frau.

Die Würste auf dem Grill
sind verkohlt.
Die Köpfe der Männer
sind nach hinten umgeknickt.
Die Frau trinkt Sekt
aus einer Sektflasche.

Neben dem Wohnwagen
liegt eine Vogelscheuche
mit aufgenähtem Davidstern.

Ein paar Krähen zerren
Stroh aus ihr heraus.

Das Wohnmobil explodiert.

Ein schwarzes Auto
mit der Aufschrift Verfassungsschutz
fährt davon.

Ich wache auf.
Ach, wenn es doch nur
so einfach wäre.

Die glücklichen Gesichter
des Baumarktes in Gleisnähe
sind ganz ausgeblichen.

Im Nachbarabteil
schreit wieder mal ein Kind.

Das BKA sucht noch immer
nach Hinweisen aus der Bevölkerung.
Die Ermittlungen zum NSU
sind nicht abgeschlossen.
Doch geschredderte Akten
sind geschredderte Akten.

Ein schreiendes Kind
lässt die Augäpfel
einiger meiner Mitreisenden
aus den Augenhöhlen hervortreten.

Der Drache?
Wo ist der Drache?

Raufaser-Wohnung

Was suche
ich hier eigentlich?
Auf den Spuren
der Judenfeindseligen.

Eine perverse deutsche Idee,
den Sommer zu verbringen?

Mit dem Finger in der Wunde pulen,
und zwischendurch einen melancholischen Witz machen,
der sich aus
der Absurdität der Zustände
selbst generiert.

Der Zug hält irgendwo
im ostdeutschen Nirvana,
um den ehemaligen Bahnhof
stehen Glatzen in Unterhemden,
sie haben sich einen ehemaligen
Zubringer des Holocausts gekauft,
um in ihm zu wohnen.

Eines der Schweine
hat sich mit Edding
„Opa war in Ordnung“
auf sein Unterhemd geschrieben.
Der Zug setzt sich in Bewegung.
Ich reiße das Fenster auf und plärre:
„War dein Opa auch im Widerstand?“
Während der Knilch zu toben beginnt,
verlassen wir das Örtchen.

Mein Opa
war doch gar nicht
im Widerstand.

Meine Selbstgefälligkeit
widert mich an.

Ob es reicht,
Nazis Worte
an den Kopf zu werfen?

Die Sonne
geht unter.

In der Rudelsburg
brennt noch Licht.

Zu Hause angekommen
in meiner Connewitzer

Raufaser-Wohnung.

Die Wände so weiß
wie eine ostdeutsche Kleinstadt
oder eben Connewitz.

Der Boden hellbraun;
Klick-Laminat.