1.5 Oleg Shevchenko

jüdisch – russisch – ukrainisch – deutsch

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Judentum in unserer Familie nur heimlich in der Wohnung praktiziert, nach außen waren alle Nichtgläubige und Sozialist:innen.  Die jüdischen Traditionen hat meine Mutter als junge Frau kaum mitbekommen. Eine feste Konstante war die jiddische Sprache zu Hause. Erst nach dem Ende der UdSSR begann unsere Familie, wieder religiöser zu werden. Mein Großonkel war der Gründer und der 1. Vorsitzende der jüdischen Gemeinde auf der Krim. Sein Sohn wurde später Rabbi der Gemeinde und ist seit der Krimkrise 2014 als Rabbi in Bratislava tätig. Seit den 90ern verließen viele Verwandte die Krim, wurden heimisch in Israel und den USA. 

Mit der Auswanderung nach Deutschland haben wir als Familie auf ein Gemeindeleben hier gehofft. Die Hoffnung ist schnell gestorben. Die Zuteilung durch das Land ergab, dass zur Unterstützung einer Gemeinde in Mühlhausen die ersten jüdischen Familien nach Mühlhausen ziehen sollten. Es blieb am Ende jedoch bei vier Familien, anschließend wurde das Programm der Kontingentflüchtlinge geschlossen. So hatten wir zwar eine geweihte Synagoge, aber keine Gemeinde. Deshalb wuchs ich säkular auf. Unser jüdisches Leben besteht nicht daraus, am Freitag zur Synagoge zu gehen. Dafür sind Feiertage dafür da, sich Zeit zu nehmen, mit der entfernten Familie über Videochat, Viber oder Telefon zu kommunizieren. Die jüdischen Feiertage sind für mich familiäre Höhepunkte. Jiddisch wird bei uns nicht mehr gesprochen. Wir sprechen zu Hause Russisch. Allgemein überschattet die russische Kultur durch die vielen Jahre der Sozialisierung der Familie die kulturellen Traditionen. Meine Mutter gründete mit engagierten Frauen einen Verein für russischsprachige Migrant:innen in Mühlhausen. Dort haben Spätaussiedler:innen und Kontingentflüchtlinge sich untereinander geholfen und feierten gemeinsam russische Feste. Die Religion spielte und spielt keine Rolle. 

Antisemitische Erfahrungen meiner Eltern sollten mit dem Umzug nach Deutschland endlich ein Ende haben. Tatsächliche erlebe ich seit Jahren persönlich einen immer weiter steigenden Antisemitismus. Als politisch Aktiver bekomme ich regelmäßige antisemitische Hetze per E-Mail. Als ich für den Thüringer Landtag kandidierte, wurden Plakate von mir mit einem Davidstern besprüht. Erst vor Kurzem bin ich an antisemitischen Graffiti in Mühlhausen vorbeigegangen. Das alles lässt manchmal an der Richtigkeit der Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, zweifeln.


Foto: Bao Anh Bui Ho

Oleg Shevchenko wurde 1995 in Simferopol (Ukraine) geboren. Er studierte VWL und BWL an der Universität Jena. Seit 2017 ist er Landesvorsitzender der Jusos in Thüringen. Heute sitzt er für die SPD im Kreistag des Unstrut-Hainich-Kreises und im Stadtrat von Mühlhausen, wo er aufwuchs.