Im letzten Kapitel zieht Sebastian Jung sich zurück in den privaten Raum, in die eigenen vier Wände. Er erinnert sich an seinen verstorbenen Opa und die Erzählungen seiner Familie über ihn. Doch auch beim Sezieren der eigenen deutschen Familiengeschichte schälen sich plötzlich Drachen aus der heimischen Raufasertapete, bedrohlich recken sie sich den Betrachtenden entgegen. Hass und Gewalt werden hier nicht erlebt, sondern erinnert, zaghaft und über verschiedene politische Systeme hinweg. Konkreter als in den vorangegangenen Projektteilen fragt Jung danach, welche Auswirkungen Digitalisierung auf Erinnerung und Archivierung hat.
Für meinen Opa.
Einen weißen deutschen
Nicht-Juden,
der für eine deutsche Rolle
während der Nazizeit
vielleicht auch einfach
zu jung war?
Aber warum frage ich das?
Will ich hier nur
schnell vorwegnehmen:
„Opa war kein Täter“,
so wie es viele Deutsche
gern behaupten?
Für den Opa,
der seine Mutter immer zitierte:
„Und da saßen die Männer am Tisch
und haben sich gefragt,
wer im Dorf wohl
mit dieser einen Stimme
die Kommunisten gewählt hat …
Hätten die gewusst,
dass ich das war …“
Mein Opa war Neurologe
und starb letztes Jahr.
Zu DDR-Zeiten bohrte er
einem Unfallopfer den Kopf auf
und verhinderte,
dass dieser an einem Blutstau
zu Gemüse wurde.
Dafür dankte dieser ihm,
indem er ihn auf der
Warteliste aufrücken ließ,
für eine der begehrten
DDR-Schrankwände.
Mein Opa war kein Linker,
mein Opa war kein Christ,
mein Opa war Arzt.
Er hat Kuchen geliebt
und meine Oma.
Sein letztes Jahr
auf dieser Erde
muss die Hölle
gewesen sein.
Die Geschichten
meines Opas
aus dem Krieg
waren die eines Kindes.
Was wahr war
und was nicht,
weiß ich nicht.
Nur dass seine Schwester
beim Familiengeburtstag
immer da saß und selig lächelte,
wenn ich als Teenager
bei Kaffee und Kuchen
von Demonstrationen
gegen Nazis erzählte.
Ich trage ihn in mir.
Seine Beerdigung
war wunderschön.
Als ich mit Kiffen begann,
zitierte er Paracelsus.
Und da hatte er recht.
Ich kiffte irgendwann
wirklich zu viel.
In seinen letzten Jahren
lebte mein Opa
in einer Wohnung
mit Raufasertapete.
Ich lebe mein ganzes Leben
in Raufasertapete.
Vor einer Woche
fiel mir meine Festplatte
vom Schreibtisch.
Und alle
meine Fotos
waren weg.
Mit Ach und Krach
konnte ich einige schöne Fotos
vom ihm wiederherstellen.
Doch die meisten Bilder
sind verloren.
Ich frage mich,
wie können wir erinnern?
Wenn die Festplatten sterben.
Von Menschen kann man
keine Back-ups machen.
Die letzten Back-ups
sind die Körper der Lebenden,
die die Erinnerungen
der Vorfahren
in ihren Knochen tragen.
Opa machs gut.