1.8 Nora Pester

Ein jüdischer Verlag zieht nach Sachsen

Unser Verlagsumzug von Berlin nach Leipzig Ende August 2018 fiel mitten in die Unruhen von Chemnitz. Über Nacht mutierte unsere Presseinformation „Der Hentrich & Hentrich Verlag Berlin geht nach Leipzig“ von der profanen Mitteilung einer Adressänderung zum politischen Statement und löste eine öffentliche Aufmerksamkeit aus, die uns völlig überrollte. Ein auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisierter Verlag lässt sich im „braunen“ Sachsen nieder, obgleich auf der „roten“ Insel Leipzig. War das nun mutig oder schlichtweg naiv? Trotz der Anerkennung Leipzigs als traditionsreiche Buch-, Kultur- und Messestadt schlug uns von außen auch Skepsis oder zumindest Neugier entdecken, ob und wie ein jüdischer Verlag in Sachsen aufgenommen werden würde. Wir gingen in die Offensive und schickten gleich in den ersten Tagen einen deutsch-israelisch-persischen Autor auf Lesereise durch Sachsen. Eine seiner ersten Stationen: Chemnitz. Sein Erfolgsrezept wurde unbewusst zum Credo unseres Verlags: Vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte redete er Tacheles und nahm zugleich die Erfahrungen seiner Zuhörer*innen ernst.

Dieser Verlag ist ein Demokratieprojekt und damit nicht an einen bestimmten Standort gebunden, sondern an eine funktionierende Demokratie. Um Friedrich Ebert zu zitieren: „Demokratie braucht Demokraten.“ Mehr denn je richten sich unsere Themen und Projekte nicht an eine amorphe Leserschaft, sondern an geschichts- und gegenwartsbewusste Demokrat*innen.

Wie hat Sachsen unsere Arbeit verändert? Wir sind näher dran an den gesellschaftlichen Debatten, die hier unmittelbarer und nicht durch die jeden Diskurs neutralisierende Filterblase der „Berliner Republik“ geführt werden. Wir müssen uns bekennen und wir sind bekannter. Wir sind politischer und zugleich diplomatischer geworden. Wir beziehen Position, aber nicht als Einzelkämpfer, sondern in Allianzen. Wir denken und engagieren uns mehr denn je über das konkrete Buch hinaus.

Haben wir Sachsen verändert? Zumindest erträgt dieses Bundesland bisher unsere selbstbewussten jüdischen Stimmen und unbequemen historischen Wahrheiten mit erstaunlicher Gelassenheit.


Foto: Hentrich & Hentrich

Dr. Nora Pester, geboren 1977 in Leipzig. Studium der Hispanistik, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Leipzig und Wien, Promotion in Politikwissenschaften. Tätigkeit u.a. beim Passagen Verlag, Wien, im Museumsquartier Wien (ZOOM Kindermuseum) und bei Matthes & Seitz, Berlin. Seit 2010 Inhaberin und Verlegerin des Hentrich & Hentrich Verlags.