Jüdische Perspektiven und ihr Potenzial für die politische Philosophie
am Beispiel des politisch-philosophischen Nachdenkens im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden
Jüdische Perspektiven bleiben in der politischen Philosophie der Gegenwart weitgehend unsichtbar. Das ist kein Zufall, sondern auf ihren langjährigen institutionellen und gesellschaftlichen Ausschluss und dessen Folgewirkungen zurückzuführen. Jüdische Perspektiven findet man meist an den Rändern der Disziplin, in einer eigenen Subdisziplin („Jüdische Philosophie“), an Disziplingrenzen, versteckt als Hintergrundinformation zu einer vermeintlich kontextunabhängigen Theorie oder im als partikular Markierten.
Ein recht unbekanntes Beispiel jüdischer Perspektiven in der Philosophie ist das politisch-philosophische Nachdenken im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Der Verein wurde 1819 in der Folge der antisemitischen Hep-Hep-Krawalle gegründet, mit denen der Ausschluss jüdischer Akademiker*innen aus den Universitäten einherging. Anspruch der Vereinsmitglieder war zum einen die wissenschaftliche Erforschung des Judentums in seiner Vielfalt aus historischer, philologischer und philosophischer Perspektive. Zum anderen war das Ziel, jüdische Emanzipation voranzubringen und erkenntnis- und gesellschaftstheoretisch die Bedingungen dafür zu evaluieren. Jüdische Emanzipation konnte den Culturvereinler*innen zufolge nur Hand in Hand mit der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation realisiert werden.
Das politisch-philosophische Nachdenken der Culturvereinler*innen kann als Erkenntnis- und Gesellschaftskritik verstanden werden, der ein emanzipatorisches Potenzial innewohnt. Neben der Kritik am Ausschluss und der Diskriminierung von Jüd*innen aus Gesellschaft und Akademie entwickelten sie einen eigenständigen, auf jüdische Perspektiven und Traditionen zurückgreifenden Zugang zu der philosophischen Frage, auf welcher Grundlage die Vielheit der Einheit im Ganzen denkbar würde. Oder in anderen Worten: wie ein gleichberechtigtes Zusammenleben in Unterschiedlichkeit unter Aufhebung der Machtverhältnisse möglich werden könnte.
Der Culturverein gilt als die Geburtsstunde der Wissenschaft des Judentums, wenngleich er seine Arbeit Mitte der 1820er einstellte, weil zentrale Mitglieder sich dem gesellschaftlichen Druck beugten und sich taufen ließen. Es ist nicht nur weiterführend, sich mit ihren Perspektiven auseinanderzusetzen, um den Druck, unter dem jüdische Wissenschaftler*innen standen, zu verstehen, sondern auch, um ihre emanzipatorischen, gesellschaftstheoretischen Überlegungen in den Diskurs einzubringen.
Um das Potenzial jüdischer Perspektiven für die politische Philosophie der Gegenwart fruchtbar zu machen, muss man sich ein Archiv jüdischer Perspektiven und Traditionen aneignen (statt sich auf einen etablierten Kanon zu konzentrieren). Ein solches Archiv lebt von der Suche nach ehemals ausgegrenzten und dadurch fortwirkend unsichtbaren jüdischen Perspektiven wie denen der Culturvereinler*innen. Sie sichtbar zu machen, bedeutet, die eigenen Prämissen im Denken kritisch zu prüfen und zu hinterfragen, welche Leerstellen das eigene Denken prägen.
Hannah Peaceman, geboren 1991, studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Gender Studies in Marburg, London und Jena. Sie promovierte am Max-Weber-Kolleg in Erfurt zum Potenzial jüdischer Perspektiven für die politische Philosophie der Gegenwart. Sie ist Mitbegründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart. Hannah Peaceman arbeitet zu postmigrantischer Erinnerungskultur, zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus und zu jüdischer Selbstermächtigung.