Empfindliche Antennen
Es gibt viele vorgefasste Meinungen über Juden. Die meisten stimmen nicht. Einige vielleicht: So glaube ich durchaus, dass Juden einen besonderen, meist bitteren Sinn für Humor haben. Letzteres hat Gründe: Jüdisches Leben war im Lauf der Geschichte oft so bitter, dass man ihm am besten mit schwärzesten Witzen begegnen konnte.
Juden sind auch darin geschult, Gefahren schnell zu erfassen. Gewiss nicht immer. Und nicht immer gilt „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“. Mir persönlich hilft diese „Schulung“ durch Antisemiten dabei, den Wert der Freiheit und der Demokratie zu begreifen – und ganz genau zu wissen, wie wichtig es ist, sie so entschlossen wie möglich zu verteidigen.
Ich selbst habe mehr als nur einmal antisemitische Anfeindungen bis hin zu physischer Bedrohung erlebt. Im September 2012 wurde ich am Jom Kippur vor der Synagoge von einem wildfremden Menschen, der aber erkannt hatte, dass ich der ihm verhassten Gruppe „jüdischer Feinde“ angehörte, angepöbelt und bedroht.
Als langjähriger Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland konnte ich auch „qua Amtes“ erleben, wie geballter Judenhass aussieht.
All das war und ist mir ein Ansporn, mich für alle von Extremisten jeglicher Couleur rassistisch, politisch oder religiös diffamierten und diskriminierten Menschen einzusetzen. Ein Vorbild dabei war mir seinerzeit der damalige Zentralratspräsident Ignatz Bubis, dessen persönlicher Referent ich war. Bubis setzte sich nicht nur gegen Antisemitismus, sondern auch gegen Angriffe auf andere Minderheiten ein, und suchte ganz gezielt, um nur ein Beispiel zu nennen, den Dialog mit Muslimen.
Natürlich muss man nicht einer Minderheit angehören, um für die Demokratie einzutreten. Gerade in Deutschland weiß man, wie gefährlich Feinde der Demokratie auch für die Mehrheitsgesellschaft sind, wie schnell sie das ganze Land in den Untergang reißen können. Die meisten Menschen in Deutschland wissen die Demokratie und die Freiheit zu schätzen und lehnen Extremismus und Rassismus ab. Dennoch würde ich für mich persönlich sagen, dass ein ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein und unsere „ausgefahrenen Antennen“ im Kampf um eine auf gegenseitiger Akzeptanz beruhende Gesellschaft hilfreich sind.
Stephan J. Kramer ist seit Dezember 2015 Präsident des Amtes für Verfassungsschutz beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales in Erfurt. Zuvor war er als Direktor, Europabüro zur Bekämpfung von Antisemitismus für das American Jewish Committee (AJC) in Brüssel und Berlin sowie als Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland tätig. Für die Jewish Claims Conference arbeitete er im Bereich individuelle Zwangsarbeitsentschädigungen auch in Osteuropa. Kramer studierte Rechtswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Soziale Arbeit mit dem Abschluss Diplom Sozialpädagoge (B.A.) und M.A. und ist Visiting Fellow der Rutgers University, NJ (USA).