1.9 Marina Chernivsky

„Er ist (wieder) da – aber er war nie weg“ – Antisemitismus der Gegenwart

Antisemitische Ressentiments sind nie wirklich weg gewesen. Auch die antisemitisch begründete Gewalt war ein ständiger Begleiter der Nachkriegszeit – bis heute. So sind auch gegenwärtig die vielen Vorstellungen von Juden und Jüdischem antisemitisch konnotiert und in der Gesellschaft tief verankert. Als kollektives Ressentiment bietet Antisemitismus ein attraktives, identitätsstiftendes und allumfassendes System der Weltdeutung und reguliert so die Wahrnehmung von und die Beziehung zu Juden* und Jüdischem. In interpersonellen Interaktionen, im öffentlichen Diskurs, in sozialen Medien, in der Nachbarschaft, an Spielplätzen, an Schulen kommt es zu antisemitischen Sprachhandlungen, zu Diskriminierung und zu Gewalt. An Schulen tritt Antisemitismus zum Beispiel häufig in Form von Stigmatisierung,  verbaler Sprachgewalt und Täter-Opfer-Umkehr in Erscheinung. Die Spanne antisemitischer Übergriffe im schulischen Kontext reicht von Reproduktion antisemitischer Stereotype in Schulbüchern bis hin zu verbalen, oder auch tätlichen Angriffen auf jüdische oder eben als jüdisch gelesene Schüler*innen und wird am Beispiel der Beschimpfung „Du Jude“ besonders greifbar.  

Es gibt zugleich ein pulsierendes jüdisches Leben in Deutschland: Doch das Narrativ der Verfolgung und die gegenwärtigen Bedrohungen überschatten die Identität und das Selbstverständnis vieler Jüdinnen*Juden. Wollen wir als Zeitgenoss*innen und Bildungsvermittler*innen wirksam darauf reagieren, müssen wir uns in erster Linie mit den spezifischen Elementen des Antisemitismus einer Post-Shoah-Gesellschaft auseinandersetzen. Folglich ist die kritische Reflexion der nicht jüdischen Akteur*innen über ihre ihren eigenen Haltungen und Bezüge, Deutungen und Handlungsmaximen unersetzlich. Aus welcher Perspektive blicken wir auf Antisemitismus der Gegenwart? Was sind die Weitergaben und Aufträge, die uns aus der Vergangenheit, aus unserer eigenen Lerngeschichte und Biografie heute einholen? Was reproduzieren wir – auch wenn nicht immer bewusst – immer weiter? Was bedeutet die Erweiterung der dominanzgesellschaftlichen Perspektive um die Perspektive von Jüdinnen*Juden? Ein kritischer Umgang mit Antisemitismus erfordert die Bereitschaft der nicht jüdischen Akteur*innen zu einer radikalen Selbstkritik und Dekonstruktion eingestaubter Deutungsmuster.  Dabei dürfen Jüdinnen*Juden nicht weiter und nie wieder als passive „Opfer“ wahrgenommen werden, sondern als handelnde und selbstbestimmte politische Akteur*innen, deren Expertisen in der Bekämpfung von Antisemitismus unverzichtbar sind.


Foto: Privat

Marina Chernivsky studierte Psychologie, Verhaltenswissenschaft und Verhaltenstherapie in Israel und Berlin. Sie arbeitet und forscht seit vielen Jahren im Bereich der Antidiskriminierung und Antisemitismusprävention, ist unter anderem Lehrbeauftragte und Bildungsvermittlerin. Sie ist zudem Gründerin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der ZWST sowie Mitbegründerin und Geschäftsführerin von OFEK e.V. 2015-2017 war sie Mitglied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages, Mitherausgeberin des zweiten Antisemitismusberichts und ist seit 2019 Mitglied im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und im Vorstand von AMCHA sowie DTPPP e.V.