30 Jahre Wiedervereinigung
Der Abend, der die jüngere deutsche Geschichte geprägt hat, war für mich zunächst kein fröhlicher. Der 9. November 1989 begann als ein Tag der Trauer und des Gedenkens an die Pogrome des Jahres 1938. Ost-Berlin war für mich damals denkbar weit entfernt, und ich wusste noch nicht, dass später am Abend einige unvorsichtige Halbsätze von Günter Schabowski eine Zeitenwende auch für das jüdische Leben in Deutschland einleiten sollten.
Mit der Wiedervereinigung änderte sich auch die Lage der jüdischen Gemeinschaft grundlegend. Bedeutende Stätten der deutsch-jüdischen Geschichte kehrten zurück ins Blickfeld: Orte wie Dessau, Halberstadt, Leipzig und natürlich Berlin konnten nun ihr jüdisches Erbe annehmen und teilweise daran anknüpfen. Vor allem aber wurde aus einer Handvoll kleiner, kaum sichtbarer und rasch alternder Gemeinden in der alten Bundesrepublik innerhalb von nur knapp einem Jahrzehnt eine der größten, vielfältigsten und innovativsten jüdischen Gemeinschaften in ganz Europa. Die Einwanderungswelle rückte jüdisches Leben in die Mitte der Gesellschaft, Zusammenwachsen und Aufbau waren auch in der jüdischen Community die wichtigsten Schlagworte der Neunzigerjahre.
Dabei wurden unzählige Erfolgsgeschichten geschrieben. Wie in der Mehrheitsgesellschaft bleiben jedoch auch in der jüdischen Gemeinschaft 30 Jahre nach der Wiedervereinigung unvollendete Baustellen, die abzuschließen künftigen Generationen vorbehalten bleiben muss. Während die großen Gemeinden blühen und gedeihen, müssen die kleineren, wie sie in den neuen Bundesländern das Bild prägen, jeden Tag um ihre Strukturen kämpfen. Noch immer fehlt es stellenweise an Synagogen und Gemeindezentren, und der Anschlag von Halle hat das wachsende Sicherheitsproblem offengelegt. Dies gilt zumal heute, da eine AfD das jüdische Leben überall in Deutschland in Gefahr bringt.
Die jüdische Gemeinschaft, ganz gleich, ob „alteingesessen“ oder nach 1990 dazugekommen, hat die Geschichte der Deutschen Einheit mitgeschrieben. Sie muss in diesem ihrem Land aber auch eine Zukunft haben. Ganz gleich, ob in München, Münster oder Magdeburg: Die Normalität jüdischen Lebens ist noch nicht erreicht, die sprichwörtlichen Koffer – wenngleich ungepackt – bleiben in Reichweite. 30 Jahre nach der Einheit bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun.
Charlotte Knobloch kam 1932 in München zur Welt. Den Holocaust überlebte sie mit falscher Identität auf einem Bauernhof in Franken, 1945 kehrte sie nach München zurück. Seit 1985 ist sie Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, seit 2013 ist sie Holocaust Memory Commissioner des World Jewish Congress.