1.2 Anetta Kahane

Säkulare Aktivitäten in Ostdeutschland

Dass es heute jüdisches Leben in Ostdeutschland gibt, war zur Wendezeit nicht zu erwarten. Gerade 300 Mitglieder zählten die Gemeinden in der DDR vor der Maueröffnung. Schätzungsweise 3.000 jüdische Menschen lebten ohne Bindung an die Gemeinden in der DDR. Sie waren kommunistische Überlebende der Shoa oder/und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Ihre jüdische Identität konnten und wollten sie nur in Ausnahmen preisgeben. Judentum war von Partei und Regierung als Religion kategorisiert und Religion galt als Opium des Volkes und somit als reaktionär. Hinzu kam der Antisemitismus, phasenweise vonseiten der Partei und immer – wenngleich nicht öffentlich – vonseiten der Bevölkerung. Deshalb gab es einige Gemeinden, aber außerhalb dessen kaum säkulares jüdisches Engagement. Das änderte sich zur Mitte der 1980er-Jahre, als die Kinder der kommunistischen Juden begannen, ihre Identität zu entdecken. Es entstanden ein Verein und Gesprächskreise, die sich mit Kultur und Religion, mit Tradition und Sinn des Judentums beschäftigten. Etwa zur gleichen Zeit beschloss die DDR-Führung eine Annäherung an das Judentum, denn um dringend benötigte Kredite aus den USA aufzunehmen, erlag die Parteiführung dem Mythos, dass dies nur über gute Kontakte zu den Juden ginge.

Die Volkskammer der DDR bat im Winter 1990 die Juden um Entschuldigung für die Shoa und für den Antisemitismus in der DDR, für den Umgang mit Entschädigung und den aggressiven Israelhass der DDR. Gleichzeitig setzte sie eine Forderung des runden Tisches um, verfolgte Juden aus der Sowjetunion in der DDR Zuflucht zu gewähren. Mit vielen Umwegen gelang es schließlich, dafür eine gesamtdeutsche Regelung zu erreichen. Etwa 200.000 jüdische Kontingentflüchtlinge wanderten auf diese Weise nach Deutschland ein. Ohne sie gäbe es in Ostdeutschland kein jüdisches Leben mehr.

Neben dem Aufbau neuer Gemeinden entstanden säkulare Initiativen und Projekte, die sich mit dem Jüdischen und seiner Verbindung zur Mehrheitsgesellschaft beschäftigen. In Dresden, Leipzig, Berlin, Rostock und anderen Städten arbeiten diese Projekte oft trotz heftiger Anfeindungen und Bedrohungen. Ihre Arbeit ist mühsam, denn sie haben sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Und sie liegt auf nur wenigen Schultern. Zwar wird viel über Juden und Jüdisches gesprochen, doch sind es nur wenige Juden, die dabei ihre eigene Perspektive darstellen können.

Jüdische Perspektiven, auch säkulare, werden von der Mehrheitsgesellschaft oft exotisiert oder schlimmer noch, nur den eigenen Bedürfnissen entsprechend mit Geltung versehen. Gerade wenn es um jüdische Stimmen geht, sieht sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft als Schiedsrichterin des Nahostkonflikts und der Legitimität des Staates Israel, der immer mit dem Jüdischen verknüpft wird. Dass dies geschieht, zeigt, wie wenig tatsächliches Interesse frei von Schuldabwehr gegenüber der jüdischen Gemeinschaft möglich ist. Dies ist nicht nur in Ostdeutschland so, doch hier beruhen solche Haltungen auf dem Selbstverständnis sozialistischer Schuldabwehr.


Foto: Peter van Heesen

Anetta Kahane ist Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Sie ist in Ost-Berlin aufgewachsen und arbeitete als Lateinamerikawissenschaftlerin in der DDR. Als erste und einzige Ausländerbeauftragte des Magistrats von Ost-Berlin warnte sie eindrücklich vor den Gefahren des Rechtsextremismus. 1998 gründet Anetta Kahane die Amadeu Antonio Stiftung, deren Kuratoriumsvorsitzende sie war, seit 2003 ist sie hauptamtliche Vorsitzende der Stiftung. Im Sommer 2002 wurde Anetta Kahane mit dem Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet.