Das multimediale Kunstprojekt von Sebastian Jung beschäftigt sich mit Antisemitismus und zeitgenössischem jüdischem Leben in Ostdeutschland. Dabei wird in formalen Experimenten der Frage nachgegangen, wie eine reale Bedrohung sichtbar gemacht werden kann, ohne eine Geschichte von passiven Opfern zu erzählen und die eigene Rolle als nicht-jüdischer Deutscher auszublenden. In Anlehnung an die Tradition der Künstler*innenbücher, liegt hier eine vom Künstler gestaltete Website vor, deren Aufbau an eine wissenschaftliche Untersuchung erinnert und die typografisch Assoziationen an die Frühzeiten des Internets wachruft.
Im ersten Kapitel eröffnet der Künstler ein Think Tank, in dem sich Akteur*innen zu jüdischem Leben in Ostdeutschland äußern. Schon hier wird deutlich, dass die Vielfalt jüdischen Lebens noch immer von Antisemitismus überschattet wird. Dieser mörderische Antisemitismus brach sich etwa am 9. Oktober 2019, an Yom Kipur, Bahn. Der Täter versuchte ein Massaker in der Synagoge von Halle anzurichten und dieses live im Internet zu streamen. Er erschoss zwei Personen und verletzte andere schwer. Den Prozessauftakt hält Jung zeichnerisch fest, doch fragt er sich: Wie konnte es überhaupt zu der Tat kommen? Um dieser Frage nachzuspüren, begibt er sich auf eine Zugfahrt durch die Thüringer Tristesse, vorbei an der Wartburg und diversen Hakenkreuzschmierereien, die ihn schließlich zur eigenen Familie führt. Und immer wieder tauchen dabei diese Drachen in der Landschaft auf, die sich selbst in den eigenen vier Wänden noch aus der Raufasertapete drängen.
Doch welche Rolle spielen die Drachen – die traditionell böse, Chaos stiftende Naturgewalt – in diesem Kunstprojekt zu jüdischem Leben und Antisemitismus in Ostdeutschland? Warum tauchen sie immer wieder auf den Reisen des Künstlers auf? Und warum kann nur er sie sehen? „Monster haben die Macht, genau jene Dinge zu enthüllen, die die Männer und Frauen, die sie produzieren, am verzweifeltesten verbergen wollen. Diese unheilvollen Kreaturen, die in den Hintergassen der Geschichte lauern, legen die Zerbrechlichkeit, Unsicherheiten und Sehnsüchte der Kulturen offen, die sie heimsuchen.“ 1 Dies erzeugt ein Unbehagen, dem Sebastian Jung auf seiner Zugfahrt nachspürt.
Die hier präsentierten formal-ästhetischen Recherchen bilden eine Annäherung an den Themenkomplex Jüdisches Leben und Antisemitismus in Ostdeutschland. Sie weisen Kontinuitäten nach und fördern beunruhigende Erinnerungen zutage. Anstelle von eindimensionalen Antworten entwickelt Sebastian Jung Fragen. Diese drehen sich um die Grenzen der Kategorien von Opfern und Tätern, um die Grenzen der eigenen Perspektive und um die Möglichkeiten digitalen Erinnerns. Auf bisher ungesehene Weise gelingt es ihm, über die Standarderzählung deutsch-jüdischer Versöhnung hinauszugehen und die ostdeutschen Realitäten sichtbar zu machen, ohne ihren Schrecken zu ästhetisieren.
Ella Falldorf, Kuratorin
1 Iris Idelson-Shein: Introduction: Writing a History of Horror, or What Happens When Monsters Stare Back, in: Iris Idelson-Shein, Christian Wiese: Monsters and Monstrosity in Jewish History From the Middle Ages to Modernity, Oxford: Bloomsbury Academic, 2019, S. 2. Übersetzung der Autorin.